Carmignac

Die Bewältigung der Inflation erfordert Kühnheit und Optimismus!

  • Autor/en
    Frédéric Leroux
  • Veröffentlicht am
  • Länge
    5 Minuten Lesedauer

In Europa dürfte die Inflation ab September deutlich zurückgehen. Ist somit eine rasche und dauerhafte Rückkehr zur Lage vor der Pandemie zu erwarten? Das halten wir für unwahrscheinlich.

Nachdem sie zunächst geleugnet, dann heruntergespielt und schließlich als vorübergehend abgetan wurde, ist die Inflation inzwischen für alle harte Realität. Die Werte der inflationsindexierten Produkte deuten auf eine Rückkehr der Teuerungsrate auf 2,0 – 2,5% innerhalb von 18 Monaten, obwohl auch ein längerer Zeitraum denkbar wäre.

Dieses mögliche Szenario basiert auf einer Analyse langfristiger Trends in der Bevölkerungsstruktur, im internationalen Handel und bei den Preisen im Online-Handel. Nachdem sie der Disinflation in den vergangenen Jahrzehnten zuträglich waren, gibt es bei diesen langfristigen Trends jetzt greifbare Anzeichen für eine Wende. Der Wille der Menschen zu mehr Ethik in der Wirtschaft – anstelle einer rein ökonomischen Effizienz – stützt diese Option einer anhaltenden Inflationstendenz mitsamt ihren Höhen und Tiefen. Hinzu kommt, dass zum ersten Mal seit Jahrzehnten die Löhne an der Inflation partizipieren, was deren potenzielle Nachhaltigkeit unterstreicht. Ein deutliches Beispiel dafür sind die USA. Nach einer sehr langen Periode ohne nennenswerte Lohnsteigerungen ziehen die Löhne jetzt kräftig an und dieser Trend dürfte noch geraume Zeit anhalten.

Wer glaubt, man könne die Inflation zügeln, ohne viel Schaden anzurichten, macht sich angesichts der sie erneut befeuernden strukturellen Kräfte zweifellos etwas vor. Um den externen Inflationsdruck nicht noch zu erhöhen, scheint es daher angebracht, dass wir uns von unserer Disinflationspolitik lösen und einen Weg finden, der besser an den sich unweigerlich ergebenden neuen Bedingungen ausgerichtet ist: wieder steigende Löhne und Gehälter, die den Verlust bei den Realeinkommen abmildern, die Reindustrialisierung zur Reduzierung der energetischen und industriellen Abhängigkeiten sowie die angestrebte Vereinbarkeit von Wirtschaftsethik und -effizienz. Es ist zu hoffen, dass der aktuell deutlich spürbare Richtungswechsel nicht in Vergessenheit gerät, wenn die Preise in den kommenden Monaten wieder fallen.

Verluste bei den Reallöhnen der Haushalte begrenzen

In den USA sind die Löhne um durchschnittlich 6% gestiegen, während die lokale Inflation nach einem Anstieg auf 8,5% zurückgehen dürfte. Dieser erwartete Rückgang lässt auf ein willkommenes Wachstum der Reallöhne jenseits des Atlantiks hoffen, wo sich die Arbeitnehmer wieder in einer günstigen Verhandlungsposition befinden.

In Europa hingegen sind die Löhne lediglich um 1,5% gewachsen, während die Teuerung auf nahezu 7,5% gestiegen ist. Diese Lücke wird zwar teilweise durch verschiedene Hilfsmaßnahmen ausgeglichen – Energiegutscheine, Tankrabatte, Lebensmittelgutscheine für Einkommensschwache – aber das können nur vorübergehende Lösungen sein. Denn diese Maßnahmen erhöhen die Abhängigkeit der Privathaushalte vom Staat und verhindern natürliche Anpassungen, indem sie die tatsächliche Preisentwicklung verschleiern.

Wird die Lücke zwischen den Einkommen der Haushalte und der Inflation nicht wenigstens teilweise geschlossen, werden die Menschen in Europa mit Sicherheit irgendwann auf die Straße gehen. Diesem Problem sollten die Regierungen, die den Lohnerhöhungen der Arbeitgeber den Weg ebnen müssen, rasch vorgreifen. Schließlich führt nominales Wachstum zu einer gewissen Verbesserung der Schuldenquote. Eine Fortsetzung der jahrzehntelangen Disinflationspolitik würde uns einer ausgeprägten Rezession aussetzen, die wohl nicht zu einer dauerhaften Stabilisierung der Preise führen – deren Entwicklung in erster Linie extern getrieben ist –und zudem weiteres Schuldenwachstum mit sich bringen würde. In diesem Fall wären aller schlechten Dinge drei!

Reindustrialisierung Europas

Europa muss sich mit seinen industriellen, militärischen und energiebezogenen Abhängigkeiten auseinandersetzen, die durch die Corona-Pandemie und den Ukraine-Krieg auf schonungslose Weise aufgedeckt wurden. Die daraus resultierende Notwendigkeit der Rückverlagerung ist für die betroffenen europäischen Länder eine Chance zur Reindustrialisierung. Frankreich beispielsweise ist ein vielversprechender Kandidat, zumal das Land aufgrund seines Bezugs zu atomarer Energie über einen großen Wettbewerbsvorteil verfügt – insbesondere, wenn die entsprechenden Anlagen ausgebaut und modernisiert werden. Kein Land kann für sich beanspruchen, eine Industrienation zu werden oder zu bleiben, wenn es keine Kontrolle über seine Energieversorgung hat. Die Liste wird sich in jedem Fall verkürzen.

Die Industrie wartet aufgrund der erforderlichen Qualifikationen und der steigenden Produktivität mit gut bezahlten Arbeitsplätzen auf. Kleine Jobs im Dienstleistungssektor wie beispielsweise bei Lieferdiensten besitzen zwar unbestritten Vorteile, stoßen aber auch an ihre Grenzen. Das inflationäre Umfeld rechtfertigt mehr denn je erhebliche Anstrengungen zur Produktivitätssteigerung, wie sie eine moderne Industrie leistet.

Die Reindustrialisierung könnte einen Anlass dafür darstellen, dass die Haushalte ihre Ersparnisse in Vermögenswerte umwandeln, deren Zinsen sich an Staatsanleihen orientieren, da diese selbst in einem Umfeld des Inflationsdrucks Gewinne erzielen können. Dies wäre eine große Veränderung gegenüber den vergangenen zehn Jahren, in denen die finanzielle Repression dazu geführt hat, dass Sparer die Staatsverschuldung gegen Negativzinsen finanzierten.

Eine verstärkte Beteiligung der Arbeitnehmer am Ergebnis ihres Unternehmens wäre eine gute, ergänzende Maßnahme, um die Einkommen an die Inflation zu koppeln. Erst vor Kurzem haben verschiedene große Unternehmen neue Programme zur Förderung der Mitarbeiterbeteiligung angekündigt. Bieten diese auch nur ein Minimum an Anreizen und Schutz, kann es gelingen, Arbeitnehmer- und Arbeitgeberinteressen global auf eine Linie zu bringen. Gleiches gilt für Staat und Sparer und ganz nebenbei könnte der Verlust bei den Realeinkommen auf ein Minimum reduziert werden.

Moral und Effizienz

Der dritte Faktor, der dazu beitragen kann, diese möglicherweise andauernde Phase der Inflation wirtschaftlich positiv zu gestalten, ist ergänzender Natur: der Wunsch nach der bestmöglichen Vereinbarkeit von Moral und notwendiger Effizienz in der Wirtschaft. Voraussetzung dafür ist ein Wirtschaftsverständnis, das auch die Erkenntnis mit einschließt, dass man den Wunsch nach einer moralischeren Wirtschaft nicht lange vom Wirklichkeitsprinzip abspalten kann.

Dies gilt gleichermaßen für die Geopolitik wie auch für die Energieabhängigkeiten. Die Verfügbarkeit von Energie basiert auf physischen Faktoren, die wir nicht ignorieren können. Werden Ingenieure und Unternehmer ausreichend in die politischen Entscheidungen zum Tempo der Energiewende einbezogen? Das aktuelle Umfeld zeigt deutlich, dass ein zu schnelles Tempo angestrebt wurde, was zur Inflation beiträgt und das Risiko eines Ungleichgewichts zwischen Energieangebot und -nachfrage erhöht. Sollte man die Öl- und Gasförderung nicht neu aufsetzen? Zu Bedingungen und in Regionen, die unserer Zukunft und der unserer Nachkommen zuträglich sind?

Wenn sich die „folgenreichsten“ politischen Entscheidungen wieder am Wirklichkeitsprinzip orientieren, könnte das aktuelle Umfeld mit etwas Fantasie und Kühnheit der Beginn einer Phase sein, in welcher der Wohlstand breiter geteilt wird. Der vor uns liegende Zeitraum weist vielleicht wirklich einige Ähnlichkeiten mit den Jahren des Wirtschaftswunders auf, die sich zwischen 1950 und 1980 aus einem Umfeld des Inflationsdrucks entwickelten und in Frankreich auch als „Les Trente Glorieuses“ bekannt sind.

Die dreißig Wirtschaftswunderjahre waren eine Phase des Wiederaufbaus, die Grundlage für den Aufstieg eines starken Mittelstands. Auch der Umgang mit den drei Abhängigkeiten, die durch die Pandemie und den Krieg in der Ukraine ans Licht gekommen sind, erfordert eine Art Wiederaufbau durch Reindustrialisierung. Für die Mittelklasse, vielfach gebeutelt durch die strukturell deflationären Tendenzen der vergangenen Jahre, ergibt sich jetzt die Chance, ihren beneidenswerten Status über Gehaltsforderungen, Mitarbeiterbeteiligung und kreative Sparmaßnahmen zurückzugewinnen. In der Folge könnte die Wirtschaft eine positive Dynamik entwickeln, die in der langen Phase sparsamer Gehaltsentwicklungen, zu niedriger Inflation und negativer Zinsen völlig verloren gegangen war.

Der sehr wahrscheinliche Politikwechsel in Bezug auf die Inflation verkompliziert die Arbeit der Fondsmanager. Nach einem zwölf Jahre währenden Zwischenspiel, in dem die aktive Fondsverwaltung jede Orientierung verloren hatte, bedeutet die Rückkehr der Inflation aber gleichsam ein Wiedereinsetzen des Konjunkturzyklus. Im Zuge der Konjunkturzyklen in ihrer Symmetrie werden Aktien oder Anleihen, zyklische oder Growth-Titel, Unternehmens- oder Staatsanleihen, Dollar oder Gold abwechselnd die Oberhand gewinnen.

Der aktive Anlageprozess, der sich dadurch auszeichnet, die Wendepunkte der Konjunkturzyklen rasch zu erkennen, wird in dieser bevorstehenden Phase des Wandels wieder an Bedeutung gewinnen. Nun wird es darauf ankommen, dass wir allgemeine ETFs und all die passiv verwalteten Fonds, die während der langen, jetzt endenden azyklischen Phase die Gunst der Sparer gewinnen konnten, auf die hinteren Ränge verweisen.



Quellen: Carmignac, Bloomberg, 17.05.2022

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